Schienbeinkantensyndrom erkennen und behandeln

Schienbeinkantensyndrom
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Das Schienbeinkantensyndrom ist eine häufige Verletzung bei Sportlern. Bei Läufern ist es mit 16% sogar die häufigste Sportverletzung. Es geht mit Schmerzen an der körperfernen Schienbeinkante einher, die zugrundeliegende Ursache ist jedoch nicht eindeutig geklärt.

Auf einen Blick

  • Bei Läufern ist das Schienbeinkantensyndrom eine häufige Überlastungserscheinung.
  • In der Regel treten bei Belastung Schmerzen am Schienbein auf, die nach dem Training langsam besser werden.
  • Weitere bildgebende Verfahren wie Röntgen und MRT sind nicht zwingend notwendig.
  • Die wichtigste Behandlungskomponente ist eine Belastungsreduktion mit schrittweisem Wiederaufbau der Belastung. Auch die Stoßwellentherapie kann hilfreich sein.


Das Schienbeinkantensyndrom (auch Shin Splints oder im Englischen medial tibial stress syndrome) beschreibt Schmerzen an der posteromedialen Kante des Schienbeins. Es tritt vor allem in Lauf- und Sprungsportarten auf. Dabei wird angenommen, dass es sich um eine Überlastungsreaktion des Knochens handelt.

Wie entsteht das Schienbeinkantensyndrom?

Die Ursache ist noch nicht geklärt. Noch lässt sich nicht sicher sagen, ob die Schmerzen von der Faszie, dem Knochen oder anderen Strukturen ausgehen. Einige Studien zeigten bei Sportlern Veränderungen am Knochen mit einer geringeren Mineralisation oder Mikrorissen. Dies ist am ehesten durch die Biegebeanspruchung des Schienbeins beim Laufen und Springen bedingt. Hierbei kann es zu mikroskopischen Schäden kommen. Wenn diese die Reparaturkapazitäten des Körpers übersteigen, kann der Abbau von Knochen (Knochenresorption) die Folge sein. So wie bei Knochenmarködemen an anderen Körperteilen kann man das Schienbeinkantensyndrom und Stressfrakturen der Tibia auch als ein Kontinuum betrachten. Es ist möglich, dass sich aus einem Schienbeinkantensyndrom bei fortgesetzter Belastung eine Stressfraktur entwickelt. Bei Frauen geschieht dies etwa 1,5-3,5 mal häufiger als bei Männern. Neben den Veränderungen des Knochens spielen wahrscheinlich aber auch eine Knochenhautentzündung und Sehnenveränderungen eine Rolle in der Entstehung.

Risikofaktoren für das Schienbeinkantensyndrom

Begünstigende Faktoren sind Veränderungen im Training insbesondere schnelle Erhöhungen von Dauer, Intensität und Volumen sowie z.B. Veränderungen des Untergrundes, auf dem trainiert wird. Beschwerden können aber auch mit neuen Schuhen auftreten. Weitere bekannte Risikofaktoren sind ein hoher BMI, ein geringer ausgeprägtes mediales Längsgewölbe, eine größere Hüftaußenrotation sowie eine erhöhte Plantarflexion im Sprunggelenk.

Symptomatik

Die Schmerzen sind meistens am mittleren bis distalen Schienbein lokalisiert und treten in erster Linie bei Belastung auf. Zu Beginn und kurz nach Ende sind sie häufig am schlimmsten. Im weiteren Verlauf können Schmerzen auch bei weniger Belastung oder in Ruhe vorhanden sein.

Diagnostik

Die Diagnose wird in erster Linie aus der Anamnese und körperliche Untersuchung gestellt. Weitere bildgebende Verfahren sind nicht zwingend notwendig. Für ein Schienbeinkantensyndrom spricht ein durch Belastung hervorgerufener Schmerz an den körperfernen zwei Dritteln der medialen Tibiakante. Die Schmerzen werden durch körperliche Aktivität provoziert und gehen danach langsam wieder zurück. Dazu besteht ein Druckschmerz an der distalen Tibiakante. Ein Druckschmerz über eine Strecke von mindestens 5 cm spricht für ein Schienbeinkantensyndrom, bei kleineren Arealen sollte auch an eine Stressfraktur gedacht werden. Wenn Beschwerden wie Taubheit und Stechen sowie Krämpfe und brennende Schmerzen im hinteren Kompartiment (also im Wadenbereich) bestehen sollte man auch an ein belastungsbedingtes Kompartmentsyndrom denken. Bei letzterem nehmen die Beschwerden nach dem Training schneller wieder ab, beim Schienbeinkantensyndrom halten die Schmerzen nach der Belastung noch ein Weilchen an und treten teilweise auch in Ruhe auf.

Wie behandelt man ein Schienbeinkantensyndrom?

Grundsätzlich gibt es viele mögliche Therapieverfahren. Allen gemein ist aber, dass es nur wenige Studien gibt, die deren Wirksamkeit belegen. Wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist eine progressive Belastungssteigerung. Am Anfang kann es auch sinnvoll sein, nur teilzubelasten. Daneben können Ruhe, Eismassage und Stoßwellentherapie sowie Dehnungs- und Kräftigungsübungen zum Einsatz kommen. Sportler sollten auch darüber aufgeklärt werden, dass es bei einem Schienbeinkantensyndrom 9 bis 12 Monate bis zur Beschwerdefreiheit dauern kann.
Wichtigste Therapiekomponente ist die progressive Belastungssteigerung. Ursprünglich sollten Lastwechsel von mehr als 10% pro Woche vermieden werden. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass bis zu 30% sicher möglich sein können. Hier muss aber jeder Sportler auf seinen Körper hören und die individuelle Belastungssteigerung mit seinem Arzt und Trainer absprechen.

Unabhängig davon, ob es sich beim Schienbeinkantensyndrom um ein Problem der Faszie oder des Knochens handelt, gibt es bei ähnlichen Problematiken an anderen Körperteilen gute Ergebnisse mit dieser Vorgehensweise. Dementsprechend sollten die Tibia belastet und die Plantarflexoren gestärkt werden. Dabei kann ein Schmerz von bis zu 2 auf der Schmerzskala von 0 bis 10 toleriert werden. Als Verlaufsparameter eignet sich der MTSS-Score.

Iontophorese, Phonophorese, Eismassage und therapeutischer Ultraschall sind in etwa gleich wirksam. All diese Therapieverfahren konnten den Schmerz signifikant stärker reduziert als in einer Kontrollgruppe ohne Behandlung. Für die Laserbehandlung und Magnetfeldtherapie gibt es aktuell keine Hinweise, dass sie einer Placebobehandlung überlegen sind.

Stoßwellentherapie beim Schienbeinkantensyndrom

Die Stoßwellentherapie hat sich auch bei anderen Erkrankungen des Knochens als hilfreich erwiesen und so gab es schon einige Studien zur Stoßwellentherapie beim Schienbeinkantensyndrom. In einer Studie von Moen et al. erhielten beide Gruppen ein abgestuftes Laufprogramm und eine Gruppe zusätzlich 5 Behandlungen mit Stoßwelle über 9 Wochen. Die Sportler in der Gruppe mit Stoßwellentherapie konnten im Durchschnitt nach 59,7 Tagen schmerzfrei für 18 Minuten laufen, in der anderen Gruppe war dies erst nach 91,6 Tagen der Fall.
Auch in der Studie von Rompe et al. konnten bessere Ergebnisse mit zusätzlicher Stoßwellentherapie erreicht werden. Die Erfolgsrate der Therapie nach 4 Monaten lag mit 64% über der in der Kontrollgruppe mit 30%. Nach 15 Monaten waren 40/47 in der Stoßwellengruppe in ihren Sport auf vorherigem Niveau zurückgekehrt, in der Kontrollgruppe nur 22/47.

In einer 10-wöchigen, placebokontrollierten Studie an 28 aktiven Erwachsenen konnten Newman et al. jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen. Allerdings war die Placebobehandlung Stoßwellentherapie mit der niedrigstmöglichen Energieflussdichte. Diese könnte auch einen therapeutischen Effekt gehabt haben.

Gomez Garcia et al. fanden in ihrer Studie an 42 Offiziersanwärtern eine längere schmerzfreie Laufstrecke nach einmaliger Stoßwellentherapie. In der Interventionsgruppe war schmerzfreies Laufen auf dem Laufband bei 10 km/h nach 4 Wochen für 17:33 min möglich, während dies in der Kontrollgruppe nur 4:48 min waren.

Beim Schienbeinkantensyndrom operieren?

Operationen beim Schienbeinkantensyndrom sind die Ausnahme. In der Literatur gibt es bisher nur einzelne Fallserien. Operationen erscheinen aber als wenig sinnvoll, da die genaue Pathogenese noch ungeklärt ist und die Ergebnisse durchwachsen sind.

Zusammenfassung

Unterm Strich scheint bei schlechter Studienlage die konservative Therapie mit sukzessiver Aufbelastung unter physiotherapeutischer Anleitung am sinnvollsten. Wichtig ist dabei vor allem die Überwachung des Trainingspensums. Ergänzend ist Stoßwellentherapie sinnvoll. Operationen sind eher nicht zu empfehlen und maximal Einzelfällen vorbehalten.

Quellen

Garcia, S. G., Rona, S. R., Tinoco, M. C. G., Rodriguez, M. B., Ruiz, D. M. C., Letrado, F. P. C., … & Garcia, J. M. A. (2017). Shockwave treatment for medial tibial stress syndrome in military cadets: A single-blind randomized controlled trial. International Journal of Surgery, 46, 102-109.

Newman, P., Waddington, G., & Adams, R. (2017). Shockwave treatment for medial tibial stress syndrome: a randomized double blind sham-controlled pilot trial. Journal of science and medicine in sport, 20(3), 220-224.

Moen, M. H., Rayer, S., Schipper, M., Schmikli, S., Weir, A., Tol, J. L., & Backx, F. J. G. (2012). Shockwave treatment for medial tibial stress syndrome in athletes; a prospective controlled study. Br J Sports Med, 46(4), 253-257.

Rompe, J. D., Cacchio, A., Furia, J. P., & Maffulli, N. (2010). Low-energy extracorporeal shock wave therapy as a treatment for medial tibial stress syndrome. The American journal of sports medicine, 38(1), 125-132.

Winters, M. (2019). Diagnostik und Therapie des Schienbeinkantensyndroms. Der Unfallchirurg, 122(11), 848-853.

Jonathan Häußer
Über Jonathan Häußer 125 Artikel
Jonathan Häußer ist Arzt in der Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Sportwissenschaftler (B.A. Bewegungswissenschaft) mit einem besonderen Interesse für die Sport- und Notfallmedizin.