
Verletzungen der ischiocruralen Muskulatur (engl. Hamstrings) zählen zu den häufigsten „non-contact“ Verletzungen in laufbasierten Sportarten. Sie machen dort mit knapp 50% den größten Anteil an muskulären Verletzungen aus. Im Vergleich zu Verletzungen anderer Muskeln ist die Wiederverletzungsrate mit bis zu 33% sehr hoch. Die Ausfallzeit variiert je nach Schweregrad und beträgt meist 3 bis 6 Wochen. Aufgrund der Verletzungshäufigkeit sowie der relativ hohen Gesamtausfallzeit, wurde in den letzten Jahren immer mehr Forschung zur Vorbeugung dieser Art von Verletzungen betrieben. Dabei ist eine Präventionsübung besonders in den Vordergrund zu stellen: Die Nordic Hamstring Übung.
Auf einen Blick
- Die NHE bewirkt eine Reduktion der Verletzungsrate von 50-60%
- Grund ist eine erhöhte exzentrische Kraftfähigkeit, besonders im M. semitendinosus, sowie eine erhöhte Faszikellänge
- Sie sollte mindestens einmal die Woche mit 2-3 Sätzen a 4-6 Wiederholungen durchgeführt werden
- Sie sollte mit hüftdominanten Kräftigungsübungen der ICM und maximalen Sprints kombiniert werden
Was ist die ischiokrurale Muskulatur (Hamstrings)?
Die ischiocrurale Muskulatur (ICM) bezeichnet, wie der Name schon sagt, die Muskulatur, welche am Sitzbein (Os Ischii) entspringt und am Unterschenkel (Crus) ansetzt (s. Ab.). Sie befindet sich auf der Rückseite des Oberschenkels und unterteilt sich in die medial an der Tibia (Schienbein) ansetzenden Mm. semimembranosus und semitendinosus, sowie den lateral an der Fibula (Wadenbein) ansetzenden M. biceps femoris.
Da sie sich über zwei Gelenke erstreckt, hat sie die Funktion der Hüftextension, sowie der Knieflexion.
Verletzungsmechanismus und Ursache für Verletzungen der Hamstrings
Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur treten fast immer bei maximalem Sprint auf. Hierbei gibt es zwei kritische Phasen:
- Die vordere Schwungphase, in welcher die ischiokrurale Muskulatur hohe exzentrische Belastung erfährt
- die vordere Stützphase, in welcher die größten Kräfte im Sprintzyklus im Moment des Fußaufsatzes auf die ischiokrurale Muskulatur wirken
80% der Verletzungen treten hierbei im langen Kopf des M. biceps femoris auf.
Die Verletzungshäufigkeit des M. biceps femoris ist ein Hinweis darauf, dass sich die einzelnen Muskeln der ischiokruralen Muskulatur, anders als in Anatomiebüchern beschrieben, in ihrer Funktion unterscheiden.
Anhand von EMG-Messungen hat man festgestellt, dass kniedominante Kräftigungsübungen (bspw. Leg Curls, oder Nordic Hamstring) überwiegend den M. semitendinosus und hüftdominante Übungen eher den langen Kopf des M. biceps femoris und den M. semimembranosus aktivieren. Daraus lässt sich schließen, dass der lange Kopf des M. biceps femoris und der M. semimembranosus eher für die Hüftextension zuständig sind, während der M. semitendinosus und der kurze Kopf des M. biceps femoris eine größere Rolle in der Knieflexion spielen. Ein gezieltes Training löst in den entsprechenden Muskeln funktionelle und strukturelle Anpassungen aus.
Ausgehend davon könnte man annehmen, dass hüftdominante und schnelle Kräftigungsübungen am besten präventiv wirksam sind, da der lange Kopf des M. biceps femoris in den häufigsten Fällen betroffen ist und dies meist bei sehr hohen bis maximalen Kontraktionsgeschwindigkeiten auftritt. Die Studienlage zeigt jedoch genau das Gegenteil:
Nordic Hamstring Exercise
Die Nordic Hamstring Exercise (NHE) wird im Knien mit gestreckter Hüfte ausgeführt. Dabei werden die Beine von einem Partner oder unter einem Objekt (Sprossenwand, Langhantel, …) fixiert. Der Oberkörper wird unter Anspannung der ischiokruralen Muskulatur langsam so weit nach vorne fallen gelassen, bis dies nicht mehr kontrolliert möglich ist und der Oberkörper mit den Händen abgefangen werden muss. Im fortgeschrittenen Bereich kann der Oberkörper daraufhin mittels konzentrischer Kontraktion der ischiokruralen Muskulatur wieder in die Ausgangslage gebracht werden.
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Bei der Nordic Hamstring Exercise wird mit gestreckter Hüfte und fixierten Füßen eine exzentrische Knieflexion durchgeführt. |
Studien zeigen, dass besonders die Nordic Hamstring Exercise eine gute Übung zur Prävention von Hamstring-Verletzungen ist. Mehrere Reviews und Metaanalysen zeigen eine Reduktion der Verletzungsrate von 50- 60% bei regelmäßiger und sinnvoller Einbindung in das Training. Damit ist sie anderen Übungen deutlich überlegen. Dabei entspricht die Nordic Hamstring Exercise gar nicht den Übungsanforderungen, welche der oben beschriebene Verletzungsmechanismus theoretisch erfordert. Er wird langsam und mit gestreckter Hüfte durchgeführt. Außerdem führt er zu einer verhältnismäßig höheren Aktivierung des M. semitendinosus.
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Die Füße können auch von einem Partner gehalten werden. Zum Anfang kann auch ein elastisches Band zur Hilfe genommen werden. |
Warum ist der Nordic Hamstring Curl also eine so effektive Übung?
Die Antwort findet sich in einer klassischen „Ursache vs. Symptom“-Problematik. Die Verletzung des M. biceps femoris ist sehr wahrscheinlich das Symptom eines zu schwachen M. semitendinosus. Die Nordic Hamstring Exercise verbessert das exzentrische Kraftniveau des M. semitendinosus signifikant, welcher also die eigentliche Ursache des Problems darstellt. Der M. biceps femoris muss funktionelle Aufgaben des M. semitendinosus kompensieren, für welche er biomechanisch und anatomisch nicht primär vorgesehen ist.
Zudem bewirkt die supramaximale exzentrische Kontraktion bei der Nordic Hamstring Exercise langfristig eine Veränderung in der Muskelarchitektur. Die Muskelfaszikel der ischiokruralen Muskulatur werden länger, wodurch in gedehnter Position mehr Querbrücken gebildet und somit größere Kräfte produziert werden können. Dies trägt ebenfalls zur Prävention bei.
Anwendung in der Praxis
Die NHE sollte mindestens einmal pro Woche in das Training eingebaut werden. Studien zeigten, dass ein Volumen von 2-3 Sätzen à 4-6 Wiederholungen ausreichend ist, um präventive Effekte zu erreichen. Mehr Volumen brachte vergleichsweise keine signifikanten Steigerungen in exzentrischer Kraft und Faszikellänge. In den meisten Studien wurde die Nordic Hamstring Exercise in das Warm-Up Programm integriert. Für die Effektivität der Nordic Hamstring Exercise bei der Durchführung nach dem Training im ermüdeten Zustand gibt es bislang wenig bis keine Evidenz. Zuletzt sollte die Nordic Hamstring Exercise mit hüftdominanten Kräftigungsübungen wie den Russian Deadlifts und maximalen Sprints kombiniert werden, um die ischiokrurale Muskulatur ganzheitlich zu trainieren und eine optimale Prävention zu gewährleisten.
Zusammenfassung
Die Nordic Hamstring Exercise ist eine effektive Übung zur Prävention von Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur. Das Verletzungsrisiko kann damit um 50-60% sinken. Die Übung sollte mindestens einmal pro Woche mit 2-3 Sätzen à 4-6 Wiederholungen durchgeführt werden. Interessanterweise führt die Nordic Hamstring Exercise nicht primär zu einer Kräftigung des am häufigsten verletzten M. biceps femoris, sondern kräftigt in erster Linie den M. semimembranosus.
Quellen
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Cuthbert, M., Ripley, N., McMahon, J.J., Evans, M., Haff, G.G., Comfort, P. (2020) The Effect of Nordic Hamstring Exercise Intervention Volume on Eccentric Strength and Muscle Architecture Adaptations: A Systematic Review and Meta-analyses. Sports Med. 50(1), 83-99.
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