Dehnen vor oder nach dem Krafttraining?

Richtig Dehnen

Die meisten, die ihre Beweglichkeit verbessern wollen und gleichzeitig Krafttraining betreiben, kennen wahrscheinlich das Problem: Wann dehne ich mich am besten und wie dehne ich mich am besten, um beides zu erreichen? Das Thema Dehnung hat schon viele Wissenschaftler beschäftigt und zu kontroversen Diskussionen geführt. In diesem Beitrag klären wir Mythen wie „Wenn Du nicht regelmäßig dehnst, verkürzen Deine Muskeln“, „Dehnen hilft bei Muskelkater“ oder „Dehnen beugt Verletzungen vor“.

Auf einen Blick

  • Dehnen verbessert die Beweglichkeit. Diese erweitert sich durch eine höhere subjektive Toleranz der Dehnspannung.
  • Dehnen hat keinen positiven Einfluss auf Muskelkater.
  • Dehnen hat einen geringen präventiven Effekt auf Verletzungen.
  • 30–45 Sekunden Dauer sind beim statischen Dehnen am effektivsten.
  • Die Muskelruhespannung wird strukturell durch die Titinfilamente bestimmt, nicht durch neuronale Reflexaktivität.
  • Kurzfristige Wirkungen des Dehnens entstehen durch die visko-elastischen Eigenschaften der Muskulatur (Creep) und sind innerhalb einer Stunde reversibel.
  • Langfristige Effekte des Dehnens ergeben sich vor allem durch eine erhöhte Dehnspannungstoleranz. Eine Muskelverlängerung durch Sarkomervermehrung ist zwar beim Tier, aber nicht beim Menschen wissenschaftlich belegt.

Was passiert beim Dehnen im Muskel?

Um zu erklären was beim Dehnen im Muskel passiert, muss man erstmal verstehen, wie ein Muskel überhaupt aufgebaut ist.

Kurz erläutert: Die äußere Hülle des Muskels wird als Muskelfaszie bezeichnet. In der Muskelfaszie befinden sich Muskelfaserbündel und diese Muskelfaserbündel bestehen aus vielen Muskelfasern. Eine Muskelfaser setzt sich wiederum aus mehreren Hundert Myofibrillen zusammen. Die Myofibrillen können durch die Myofilamente Aktin und Myosin, welche die kontraktilen Elemente sind, kontrahieren. Aktin und Myosin sind so angeordnet, dass sie sich verbinden und ineinandergleiten können. Um das Aktinfilament herum befindet sich noch das Tropomyosin. Das Tropomyosin verhindert, dass im Ruhezustand Aktin und Myosin ineinandergleiten. Wenn der Muskel sich aber nun kontrahieren soll, dann gibt das Tropomyosin die Verbindung frei und Aktin und Myosin können ineinandergleiten. Der Muskel verkürzt sich (Kontraktion).

Bei einer Dehnung werden die Aktin- und Myosinfilamente auseinandergezogen. Gleichzeitig werden die visko-elastischen Strukturen des Muskelbindegewebes gedehnt. Das Muskelbindegewebe setzt der Dehnung einen Widerstand entgegen und vermeidet so eine unphysiologische Dehnung. Das Titin (siehe Abbildung) funktioniert als elastische Feder und bewirkt, dass der Muskel sich nach der Dehnung wieder in seine ursprüngliche Länge zusammenzieht.

Mythos 1: „Deine Muskeln verkürzen ohne Dehnübungen“

Also zunächst einmal: Ein Muskel verkürzt nicht.

Mechanorezeptoren (Sinneszellen zur Wahrnehmung mechanischer Reize wie Muskellänge und -spannung) melden, wenn der endgültige Grad der Bewegung eines bestimmten Gelenks erreicht ist. Wird das Bewegungspotential jedoch nicht ausgeschöpft, sinkt der Widerstand dieser Rezeptoren gegenüber den auftretenden Dehnungsreizen. Das ist der Grund, wieso wir ungedehnt werden und sich unsere Beweglichkeit reduziert.

Wird mein Muskel durch das Dehnen länger?

Klare Antwort: Nein.

Man hat dies bei einer Untersuchung von Turnern und Nichtturnern beobachten können. Es ist bekannt, dass Turner in der Regel sehr flexibel und beweglich sind, aber man konnte keine Unterschiede zwischen Turnern und Nichtturnern hinsichtlich des Winkels in dem die Maximalkraft erbracht werden kann, beobachten. Daraus muss geschlossen werden, dass der Muskel nicht länger werden kann und sich nicht morphologisch verändert. Es verändert sich aber die subjektive Schmerztoleranz. Das bedeutet, dass wir bei bestimmten Dehnpositionen weniger Schmerzen haben und dadurch weiter in die Dehnung gehen können. In Tierversuche konnte eine Verlängerung des Muskels durch eine Erhöhung der Sarkomerzahl in Längsrichtung nachgewiesen werden. Bei Menschen war das allerdings noch nicht festzustellen.

Mythos 2: „Dehnen hilft, wenn Du Muskelkater hast“

Klare Antwort: Nein

Ein Muskelkater sind feine Muskelfaserrisse und sagt Dir, dass zu viel trainiert hast. Wenn man bei einem Muskelkater auch noch dehnt, dann gibt man einen zusätzlichen Reiz auf den Muskel und kann die Mikrotraumata (Muskelfaserrisse) verschlimmern. Gerade, wenn man eine neue Übung ausprobiert oder sehr intensiv trainiert ist die Wahrscheinlichkeit hoch, einen Muskelkater zu bekommen. Deswegen sollte man das Dehnen nach einem intensiven Training eher kurz halten. Allgemein kann man sagen, dass je intensiver man trainiert hat und desto anstrengender die Belastung war – vor allem bei neuen Übungen – desto vorsichtiger sollte gedehnt werden. Außerdem wird die kapillare Blutversorgung durch langes und statisches Dehnen behindert und kann so die Regeneration nach einem Training behindern.

Mythos 3: „Durch Dehntraining verletzt Du Dich weniger“

Klare Antwort: Jein

Schon immer sagt man dem Aufwärmen und Dehnübungen eine positive Wirkung gegenüber Muskelverletzungen nach. Es gibt jedoch keinen wissenschaftlichen Hinweis, dass ein gedehnter Muskel für Verletzungen weniger anfällig ist. In einer Metaanalyse von Herbert und Gabriel (2002) sind zwei Studien aufgelistet, in denen ein mäßig reduziertes Verletzungsrisiko durch Dehnen nachgewiesen werden konnte. Das Risiko war jedoch nur um 5% geringer. Das würde bedeuten, dass ein normal Sport treibender Mensch 23 Jahre dehnen müsste, um eine einzige Verletzung zu vermeiden.

Dennoch sind spezielle Dehnübungen vor einer sportlichen Belastung im Sinne einer Verletzungsprophylaxe sinnvoll. Es geht dabei aber nicht primär um das Dehnen der Muskulatur: Das aktiv-dynamische Dehnen bereitet die Muskulatur sowie die passiven Strukturen des Körpers (Sehnen, Bänder, Knorpel etc.) auf die bevorstehende Belastung vor. Die inter- und intramuskuläre Koordination verbessert sich dadurch, ebenso wie die Durchblutung der Muskulatur. Dadurch kommt es zu einer Steigerung der Muskeltemperatur, einem der wichtigsten Faktoren für das Aufwärmen.

Wie dehne ich mich am besten?

Statisch oder dynamisch?

Man kennt die Unterteilung in statische und dynamische Dehnung, doch ist das eine geeigneter, um die Beweglichkeit zu verbessern? Laut Wydra (2006) verbessern sowohl statische als auch dynamische Dehnmethoden die Dehnfähigkeit eines Muskels.

Bei der statischen Dehnung sollte man die Endstellung ca. 30-45 Sekunden halten.

Beim dynamischen Dehnen hält man die Endstellung ein bis zwei Sekunden und verlässt diese anschließend wieder. Die Bewegung wiederholt man mehrmals ohne Pause. Dabei orientiert sich die Gesamtdauer an der statischen Dehnung. Das bedeutet, dass man insgesamt ca. 30-45 Sekunden dynamisch dehnen sollte, also ca. 15-20 Wiederholungen mit ein bis zwei Sekunden Dauer.

Je intensiver, desto besser?

Wenn man submaximal dehnt, dann ist die Dehnung relativ leicht und gut auszuhalten. Wenn man maximal dehnt, geht man bis zum größtmöglichen Dehngefühl. Nach beiden Dehnvarianten verbessert sich zwar die Bewegungsreichweite, jedoch ist die maximale Dehnung effektiver.

Aktiv-dynamische Dehnübungen sollten ein fester Bestandteil jedes Aufwärmprogramms sein. Sie sind besonders wichtig vor intensiven Belastungen sowie schnellen und explosiven Kraftbelastungen, die eine große Flexibilität erfordern. Im Allgemeinen sollte das Dehnen ein leichtes Ziehen hervorrufen, allerdings keine extremen Schmerzen verursachen. Nach dem Training bieten sich statische Dehnübungen an. Diese helfen, die Spannung in der belasteten Muskulatur zu vermindern. Dafür solltest du bei den unterschiedlichen Übungen jene Position, in der du einen leichten Dehnreiz verspürst, 20 bis 90 Sekunden halten. Nach mehrmaliger Wiederholung solltest du eine deutliche Abnahme der Dehnspannung spüren.

Beweglichkeit ist immer eine Kombination aus Mobilisation, Dehnung und Kräftigung. Dehnungsprogramme alleine sind natürlich hilfreich und sinnvoll, aber sie haben nicht den gleichen positiven Effekt wie eine Kombination aller drei Bereiche. Ein Ganzkörpertraining mit dem eigenen Körpergewicht gepaart mit regelmäßigem Dehnen ist eine ideale Möglichkeit, um die Beweglichkeit zu verbessern.

Vor oder nach dem Krafttraining dehnen?

Ich mache Krafttraining und möchte meine Beweglichkeit verbessern. Aber wie? Wissenschaftler untersuchten den Einfluss von statischem Dehnen des M. quadriceps femoris (2 × 25 Sekunden) vor einem Krafttraining. Das Dehnen in Form einer passiven Knieflexion in Bauchlage durch einen Therapeuten vor dem Krafttraining führte zu einer zusätzlichen Verbesserung der Range of Motion (ROM) im Vergleich zum reinen Krafttraining. Die kombinierte Gruppe konnte die ROM um 10,1 Prozent verbessern, die Kraftgruppe nur um 2,1 Prozent. Gemessen wurde die aktive Kniegelenkflexion im Stand. Hier ist anzumerken, dass das zusätzliche Dehnprogramm jedoch zu einem geringeren Trainingsvolumen und Muskelquerschnitt (gemessen im M. vastus lateralis) führte.

Auch die Ergebnisse anderer Autoren kommen zu dem Schluss, dass Stretching vor einem Krafttraining zu einem geringeren Trainingsvolumen, also weniger Wiederholungen pro Satz, führt. Steht die Bewegungserweiterung im Fokus und das Erreichen einer Hypertrophie ist eher zweitrangig, können vor dem Krafttraining Dehnübungen durchgeführt werden. Steht jedoch der Aufbau von Muskelmasse ohne explizite Erweiterung der ROM im Vordergrund, sollte aufgrund der genannten Effekte kein längeres statisches Dehnprogramm vor dem Training stattfinden.

Zusammenfassung

Ein Dehnprogramm verbessert die Beweglichkeit, allerdings nicht durch eine Verlängerung oder Längenwachstum des Muskels. Das konnte bei Menschen bisher nicht nachgewiesen werden. Die Beweglichkeit verbessert sich durch eine höhere subjektive Toleranz der Dehnspannung. Statische Dehnübungen sollten ca. 30-45 Sekunden gehalten werden. Positive Effekte auf Muskelkater und präventive Effekte auf Verletzungen waren bisher nicht signifikant nachzuweisen. Nichtsdestotrotz sollte das Dehntraining nicht vernachlässigt werden. Vor allem ein Ganzkörpertraining mit dem eigenen Körpergewicht, gepaart mit regelmäßigem Dehnen ist eine ideale Möglichkeit, um die Beweglichkeit zu verbessern.

Und um die Frage in der Überschrift ganz klar zu beantworten:

Krafttraining kann mit Dehntraining kombiniert werden, aber man sollte sich im Klaren darüber sein, welches Ziel man verfolgt. Da ein Dehntraining vor den Krafttraining zu einem geringeren Trainingsvolumen führt, sollte ein separates Dehntraining durchgeführt werden, wenn das Ziel der Aufbau von Muskelmasse ist. Wenn die Bewegungserweiterung und Muskelaufbau gleichermaßen Ziele sind, kann man vor dem Krafttraining Stretching-Übungen durchführen. Zu beachten ist in beiden Fällen, dass ein Aufwärm- und Mobilisierungsprogramm Pflicht ist.

Quellen

Güllich, Arne; Krüger, Michael (Hg.) (2013): Sport. Das Lehrbuch für das Sportstudium. 1. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

Herbert, Rob D.; Gabriel, Michael (2002): Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review. In: BMJ : British Medical Journal 325 (7362), S. 468.

Kraft, Wilhelm E. (2003): Dehnen, aber richtig! Stretching auf dem neuesten Stand. In: physiotherapie (6(03)), S. 32–35.

Marschall, Ferdinand (1999): Effects of different stretch-intensity on the acute change of range of motion. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50 (1), S. 5–9.

Scheinost, David (2021): Dehnen versus Krafttraining. In: physiopraxis (19(10)), S. 28–31.

Wydra, Georg (2006): Handbuch Gesundheitssport. Schorndorf: Hofmann.

https://www.adidas.de/blog/533438 (letzter Aufruf: 08.04.2022)

Marie Matzig
Über Marie Matzig 2 Artikel
Marie Matzig, 1999 in München geboren und zur Schule gegangen, hat nach einem Aufenthalt in Paris an der Justus-Liebig-Universität in Gießen ihren B.Sc. Bewegung und Gesundheit abgeschlossen. Sie arbeitet seit 2021 bei movement24, privat hält sie sich mit Crossfit, Taekwondo und Surfen beweglich und gesund.